Auszüge aus dem Referat "Die Seelsorge von Geistes- und Gemütskrankheiten"
«[…] Es fragt sich nun, was hat der Seelsorger bei vorkommenden Fällen von Geisteskrankheiten und was hat er an den Gemüths- u. Geisteskranken zu thun? Wenn es die Aufgabe des christl. Seelsorgers ist, die Heerde Christi zu weiden, so ist es gewiß seine h. Pflicht, ganz besonders auch diese Glieder der Heerde, die im natürl. Sinne des Wortes verirret sind, wahrzunehmen. Es ist dieß nicht so leicht. Nicht nur ist es schwierig, den Anbruch von Geistesstörungen sicher zu bestimmen, weil dazu eine genaue Kenntniß der Individualitäten, des Charakters ihrer Familien, des Lebens in ihren Häusern und besondere Vorgänge im Leben gehört, was Alles um so schwieriger wird, je ausgedehnter eine Gemeinde ist, sondern, was wenigstens meine Erfahrungen anbelangt, es verbergen sich schon ausgebrochene Krankheiten absichtlich dem Auge des Seelsorgers und werden von den Angehörigen eines Kranken oft lange aus falscher Schaam verhehlt. Die Kranken selbst sind es oft zuerst, die sich dem Seelsorger offenbaren und ihr Herz ihm ausschütten.
[…] Oft fehlt es an pecunia, die Verpflegungskosten zu tragen und noch öfter am guten Willen, pecuniam zu lassen. Es ist unbegreiflich, zeigt sich aber gerade in solchen Fällen deutlich, wie zähe das Volk am Geldsack hängt, und wie schwer es ihm wird, für vernünftige Zwecke etwas herzugeben, während es für unvernünftige noch viel mehr verschleudert. Wenn nicht von 10 Fällen im Durchschnitt es wenigstens 9 giebt, wo Scharfrichter und Somnambülen, Gaukler und Kapuziner zu Rathe gezogen werden in solch unheimlichen geistlichen Angelegenheiten, ehe man vernünftigen Vorstellungen ein williges Gehör zu schenken bereit ist, so will ich auf die Kenntniß des Volkes, die ich bisher zu haben glaubte, verzichten. Fast alle meine Kranken haben dank ihrer oben erwähnten Offenherzigkeit mir Geständnisse über solche Dinge gemacht, die mir die Ihrigen auf’s Sorgfältigste verbergen, und sie gehörten zu den besten und kirchlichsten in der Gemeinde.
[…] Wenn nun eben aus diesen oder aus anderen Gründen Gemüths- und Geisteskranke in unserer Gemeinde bleiben und unsrer Einwirkung od. Pflege anbefohlen sind, wie haben wir da zu wirken? Ich denke, es sind zuerst die Fälle zu unterscheiden. Wir wollen beim betrübtesten, dem vollendeten Blödsinn anheben. Ja da hat eigentlich der Seelsorger nichts zu thun, als mit den Angehörigen sowohl als auch in seiner pastoralen Fürbitte für solche Unglückliche zu beten und die dankbaren [?] Angehörigen aufzurichten und zu trösten, auch, so weit sein Einblick reicht, ihnen Verhaltungsregeln an die Hand zu geben. Der Erkrankte selbst ist total unfähig für alle geistliche Einwirkung u. sieht im Pastor etwa den Kaminfeger oder die Polizei, lacht heute unbändig, wenn er ihn sieht, weint morgens, wenn er wieder kommt.
[…] Ähnlich verhält es sich beim totalen Wahnsinn, zumal wo derselbe in Tobsucht und Raserei übergegangen ist, und wo, da uns die Gaben nicht gegeben sind, mit denen einst der Herr und in der ersten Kraft seines Geistes seine Jünger auch solche Mächte beherrschten, wie physische Gewalt den Zweck erreichen kann, dieselben zur Ruhe zu bringen. Doch möchte ich, wo wir in solches Elend hereintreten müssen, vor allem empfehlen, daß wir durch Gebet im Glauben gewaffnet und gestärkt unerschrocken, klaren Auges festen Blicks u. Schritts solchen Elenden begegnen; so gut wie auf die unvernünftige Kreatur wird der Geistesblick des Auges, der Geistesausdruck der Stimme, die Geisteskraft des Willens oft auf sie wirken. Ein solcher Kranker, der von den Seinen unverantwortlicherweise aus der Irrenanstalt mitten aus der Pflege heraus war genommen u. Abends heimgebracht worden, fing daheim bald zu toben an. Ich hörte ihn auf einige hundert Schritte weit, als man mich Nachts zu ihm holte, brüllen wie ein Vieh und der Anblick, als ich zu ihm kam, war schrecklich. Er wälzte sich auf dem Bette, schlug um sich, hatte sich Arme u. Hände blutend wund gekratzt, er knirschte und klapperte mit den Zähnen, als wäre er in der Hölle und doch – ich will mich nicht rühmen, bin mir meiner Schwachheit zu wohl bewußt, da ich ihn ernst anredete, scharf ihm in’s Angesicht schaute, fest ihm die Hand ergriff u. ihm Stille gebot, wurde er endlich ruhig, erkannte er mich und ich konnte zuletzt noch, wenn freilich unterbrochen durch sein Irrsein, Reden mit ihm tauschen und ihn einigermaßen beruhigen. Ich weiß wohl, daß in vielen Fällen dieß wenigen gelungen wäre, aber doch möchte doch damit andeuten, daß gar oft u. öfter als wir wähnen, noch ein Fünklein von Willenskraft im Kranken vorhanden ist, an das man anknüpfen das man vielleicht zum Flämmlein anfachen kann.
[…] möchte ich hervorheben, daß unsere erste Arbeit zumal an solchen Kranken, die geistlicher und moralischer Einwirkung noch fähig sind, wie dieß bei allen mit fixen Ideen behafteten, bei allen Schwermüthigen der Fall ist, weniger eine rein geistliche als vielmehr eine pädagogische erzieherische ist.
[…] Ich bin einem Kranken, den ich wohl mehr als ein Jahr lang oft täglich besuchte, endlich nachgerade von selbst zu dieser Einsicht gelangt, und auf diese Methode gerathen, ehe ich sonst etwas davon wußte. Wie oft habe ich den gewaltigen Mann aus seinem Bette gezogen und ihm wohl Stunden lang keine Ruhe gelassen, bis er nach vielem Seufzen und Jammern u. Widerreden jetzt das rechte endlich das linke Bein in seine Hosen steckte und sich sonst wie ein vernünftiges Menschenkind kleidete; wie oft freilich, wenn er den ganzen Tag keinen Bissen zu sich genommen hatte, weil eine Verwünschung auf der Speise ruhte, ihm den Löffel voll Suppe zum Munde geführt, bis er, wie lange er auch die Zähne zusammen beißen und sogar Miene machen mochte, thätlich zu werden, endlich mit dem ersten Schlucke auch sein falsches Gebot übertrat und dann die übrige Speise mit wahrem Heißhunger verschlang! Einmal habe bald scherzend bald erregt ihm zuredend wider meinen Willen gewiß ein Pfund Kirschen gegessen, die die Seinen frisch gepflückt hatten und nach denen er gelüstet und doch nicht davon essen durfte, bis er endlich in Gottes Namen einen Anfang machte und dann wohl zwei Pfunde verschlang. Wie oft habe ich ihn mit allem Aufwand meiner Beredsamkeit u. endlich mit dem strengen Gebote «Ihr müßt jetzt unbedingt», ihn am Arme nehmend mit fortgezogen auf das Feld, mit den Seinen die Arbeit zu thun! – Und was war die Folge von alle dem? Daß diese leider zu sehr sporadischen Einwirkungen das Übel zwar nicht heben aber doch auch nicht weiter einreißen ließen, sondern eher verminderten, u. daß der Kranke mehr als hundertmal fast im Tone des Vorwurfes sagte: Warum sind Sie nicht früher schon so mit mir gefahren? Ich wäre so tief nicht hineingekommen. – Überhaupt ist Arbeit, besonders leibliche Thätigkeit ein nicht genug zu schätzendes Heilmittel wie gegen alle sittlichen Gebrechen so vor Allem auch gegen diese Verlesungen [?] der sittlichen Ordnung, u. je weniger die Irren sich dazu verstehen wollen, je ernster muß man darauf dringen, wo immer es ihre leibliche Gesundheit erlaubt. […]
Bei allen diesen Einwirkungen von mehr äußerlicher Natur aber, bei alle dem, daß man verrückten Irren entgegentrete, u. oft fast gewaltsam gebietend den Kranken behandeln muß, sollen wir wahrlich nie das Ebenbild Gottes, wie verunstaltet es auch in ihm erscheinen möge, verkennen und schmähen. Es ist auch meine vielfach gemachte Erfahrung, wie […] die Achtung, die wir ihm zollen, auch dem Seelenkranken Achtung einflößt und mir eine ungeheuchelte herzliche Theilnahme sein Vertrauen erweckt. Ein scheinbar gerechtfertigter Spott beleidigt ihn tiefer als man wähnt, er sieht daraus, daß die es thun, sein Inneres nicht erkennen, das Leiden seiner Seele nicht verstehen und wendet sich scheu von ihnen ab. Wenn irgendwo, so gilt es auch hier: Weinet mit den Weinenden. Ich weiß [?] das vom lebendigen [?] theilnehmend sich hineinversetzen in die Lage des Kranken, das allein ein rechtes Verständniß u. eine richtige Behandlung möglich macht. Ich meine das aber nicht so, als ob man auf den Irrthum eingehen u. den Wahn scheinbar mit dem Kranken für wahr halten solle; vielmehr gilt es, denselben mit der einfachen Wahrheit zu widerlegen. In die Idee des Irren einzugehen und sie scheinbar mit ihm zu theilen, um durch den Irrthum ihn zu heilen, das hieße ihn nur in seinem Wahn bestärken. Es sind bekanntlich schon viele derartige Mittel versucht worden; man hat für den, der meinte todt zu sein u. lamentierte, daß man ihn nicht begraben wolle, eine Leichenbegängniß veranstaltet, man hat dem, der meinte keinen Kopf zu haben, eine bleierne Kappe aufgesetzt; man hat dem, der meinte einen Heuwagen sammt vier Pferden im Leibe zu haben, ein Brechmittel gegeben und ihn zum Fenster hinaus sich erbrechen lassen, während in demselben Augenblicke ein Heuwagen aus dem Hofthor fuhr; man hat den, der eine Glaskugel an der Nase hatte, operiert und hundert dergleichen Geschichten mehr. Aber wenn schon erfahrene u. gewissenhafte Irrenärzte vor solchen Dingen als unredlichen und in der Regel unnützen Mitteln warnen, die, wenn sie in einem Falle helfen, in hundert andern schaden, wie viel weniger stimmt es mit der Würde und mit der Aufgabe eines Seelsorgers [überein], auch nur von ferne etwas von […]
So bleibt uns in der Seelsorge bei Gemüths- u. Geisteskranken außer der Anwendung der pädagogischen Zucht, die vor Allem mit Weisheit und Treue, mit milder Freundlichkeit und festem Ernste gehandhabt werden muß, wesentlich dasselbe übrig zu thun, was uns überhaupt in der Seelsorge zu thun obliegt und sind wir auf dieselben Mittel beschränkt, mit denen wir sie ausüben sollen, das Wort Gottes und das Gebet. Es kann keine Frage sein, daß dieselben in Anwendung kommen sollen u. dürfen; was für die Gesunden die zuträglichste Nahrung des Geistes ist, das ist es immerhin auch für die Kranken. Allerdings ist eben auch hier wohl zu prüfen, wie weit die Anwendung z. B. im Gebrauch des Wortes Gottes gehen soll, es ist unter Umstän[den besser,] sogar den Leidenden wenigstens vom eigenen Lesen des Wortes Gottes eine Zeit lang abzuhalten. Wenn beim Lesen des göttl. Wortes die irrende Phantasie sich gerade an das hängt, woraus der Wahn sich nährt, was die Angst der Seele vermehrt, so ist zu rathen, das Wort Gottes lieber spärlicher zu lesen.
[…] Von tiefster Wirkung ist gewiß endlich das Gnadenmittel des Gebetes, u. wenn je so ist hier gefordert mit den Kranken zu beten, sofern sie so viel sittliche Kraft haben, sich dazu zu erheben.
[…] Vor Allem aber, und es scheint mir eine Hauptsache zu sein, muß, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, vor solchen Armen ein freudiges Glaubensleben, eine feste Zuversicht aus dem ganzen Verhalten des Seelsorgers wahr und rein hervorleuchten, daß an dieser Stütze der gebrochene Muth des Pflegebefohlenen sich wieder aufrichten, daß an diesem Feuer die erlöschende Flamme seines inneren Lebens sich wieder entzünden kann.
[…] Und solche Freudigkeit zu gewinnen, solchen frohen Glaubensmuth und die christliche Heiterkeit der Seele auch unter den ermüdendsten und niederdrückendsten Verhältnissen scheinbar ganz vergeblicher Arbeit zu bewahren, dazu bedarf es eines Maaßes des Geistes, den wir nur aus der Fülle der Gnade dessen schöpfen können, der ja auch uns mit ungleich größerem freundlichem Erbarmen trägt. Und wenn wir überhaupt keinen gesegneten Gang im Dienst der Seelsorge thun können ohne die Bezeugung des Geistes, die uns geschenkt werden muß, so gilt es hier doppelt, daß wir uns im rechten Glauben stärken, und aus aller Verdumpfung und allem grillenhaften Brüten, wozu in dem einsiedlerischen Leben unseres Standes so manche Versuchung liegt, gelangen zur rechten und frohen Freiheit der Kinder Gottes.» –