Abel Burckhardt-Miville

Abel Burckhardt.#Porträtsammlung UBH Portr BS Burckhardt A 1805, 2Burckhardt-Miville, Abel, (1805–1882), Sohn des Professors Johann Rudolf Burckhardt. Nach dem Studium der Theologie in Basel und Berlin ab 1830 gemeiner Helfer in Basel, 1839–54 Pfarrer von Gelterkinden, dann bis 1875 Obersthelfer (zweiter Pfarrer) am Münster. Der pietistische Theologe wurde vornehmlich durch seine baseldeutschen ‹Kinder-Lieder› (1845) bekannt, die er nach und nach für die Weihnachtsfeiern der ‹Basler Sonntagssäle für Knaben und Lehrlinge› verfasst hatte. Seit 1850 wurde das religiöse Liederbuch dort als Weihnachtsgabe ausgeteilt, ab 1854 in einer durch Wilhelm Wackernagel bearbeiteten Ausgabe.

Burckhardt versuchte noch vor Breitensteins Abschlussexamen den jungen Theologen wortreich ins eigene, orthodox-pietistische Lager innerhalb des Pfarrkonvents zu ziehen.

Gelterkinden den 17 Juni 1852

Von Pfr. Abel Burckhardt, Mitglied der theologischen Prüfungskommission, der sich auf einen heute verschollenen Lebenslauf Jonas Breitensteins bezieht.

 

Geehrter Herr Breitenstein!

Es mag Sie wohl dieser Brief eines Ihnen unbekannten Mannes, der Sie erst einmal in seinem Leben von ferne gesehen hat, in einiges Erstaunen setzen. Ich habe auch etliche Male, aus Furcht mißverstanden zu werden u. zudringlich zu erscheinen, den Trieb Ihnen zu schreiben bei mir unterdrücken wollen. Über die Offenherzigkeit u. Aufrichtigkeit, womit Sie sich in Ihrem an die theologische Prüfungsbehörde eingegebenen Curriculum vitae aussprachen, hat auch meine Offenherzigkeit geweckt. Ich habe Sie, dünkt mich, seit ich diesen Lebenslauf gelesen habe, nicht nur von ferne, sondern recht von Nahem sehen dürfen. Ihre Redlichkeit, die bescheidene Stellung, die Sie in Ihren theologischen Ansichten einnehmen, hat mir wohl gethan. Warum sollte ich mich so zwingen zu schweigen? Warum soll der ältere Bergmann, der den neuen jüngern Genossen in den Schacht, aus dem das edle Gold der Wahrheit zur Gottseligkeit herausgefördert werden soll, hinunter folgen sieht, den ermunternden u. zugleich warnenden Zuruf, das theilnehmende „Glück auf!“ gegen denselben zurückhalten? Und ein Glückauf! ein ermunterndes Wort der herzlichsten Theilnahme darf man Ihnen ja wohl zurufen. Haben Sie doch schon darin einen schönen Sieg des Glaubens feiern dürfen, daß das mächtige Bedürfniß Ihres Herzens nach einem lebendigen persönlichen Gott, ja daß die frühe u. wiederholte Herzenserfahrung eines persönlichen Verhältnisses zu Ihm über die pantheistischen Ideen u. Denkformeln entschieden das Übergewicht errungen hat. Das ist Gottes Gnade, die hierin in Ihnen stärker geworden ist als die Weisheit der gegenwärtigen Zeit u. Aufklärung, die Ihnen in diesem wichtigen ersten Anfangsgrunde des Lebens das aus Gott ist, gezeigt hat, wie die göttliche Thorheit weiser ist denn die Menschen sind. Und nun wissen Sie ja schon, was so Manchen, die auf dem unstäten Meere der Gedanken der Menschen ohne Compaß u. Steuer umherirren, lange verborgen bleibt, nun haben Sie schon erfahrungsmäßige Kunde darüber, daß die wahre Religion nicht „ein philosophisches System, sondern eine ethische Macht“ sein muß, ein Lebensverhältniß in das ich treten muß mit meinem Gott, und daß es eben bei der theologischen Erkenntniß gehen muß, wie bei aller andern Erkenntniß: zuerst muß der Mensch in die Welt, die er erkennen soll, hineingeboren werden; das Leben ist das Licht der Menschen.

Aber Sie haben noch einen zweiten Schritt gethan, über den ich mich für Sie freue. Sie haben schon die Anwendung von dem Obigen auf die soteriologischen Dogmen gemacht. Sie haben erkannt, daß, wenn wir die so tief liegende Wahrheit derselben ergründen wollen, wir auch hier in „unsre eigene Brust greifen und von unsern innersten religiösen Erfahrungen ausgehen müssen“. Ja noch mehr, Sie haben sich schon neben Ihre Erfahrungen diejenigen von Andern, von Vielen, von „Millionen“, die in jenen verschrieenen und verhassten Dogmen Gottes Kraft u. Gottes Weisheit gefunden haben, hingestellt, und haben den Gedanken nicht ganz von sich gewiesen, es könnten auch Sie noch einmal durch tiefere Bedürfnisse und tiefere Erfahrungen darauf geführt werden, hier Ihre Erkenntniß vertiefen (und darf ich hinzusetzen: berichtigen?) zu lassen. Mein lieber junger Freund, da ruft Ihnen ein älterer Bergmann, der diesen Weg u. keinen andern, und nicht im Scherz noch leichtgläubiger Weise gegangen ist, ein theilnehmendes ernstes Glück auf! entgegen. Vielleicht sehn Sie schon aus diesen Andeutungen, daß wir Orthodoxen u. Pietisten nicht ganz so arg sind als Mancher meint: daß wir den Leuten das Glauben an das Evangelium nicht nur so als ein Gesetz u. Joch auf den Hals legen wollen; daß wir ebenfalls wie Sie keinen Buchstabenglauben, sondern einen Erfahrungsglauben suchen, preisen u. kennen, und einem redlichen bescheidenen Sucher nicht so zumuthen, er solle nur ohne Weiteres die Mysterien der Religion „in Bausch und Bogen“ annehmen; obwohl wir allerdings für unsre Person je mehr u. mehr überzeugt worden sind, daß das ganze Evangelium und das unveränderte u. ungeschmälerte Evangelium Christi und seiner Apostel die Wahrheit zur Gottseligkeit, das kündlich große Geheimniß ist, das von der Welt her in Gott verborgen war. Dürfte ich Sie um etwas bitten, so würde ich bitten, Sie sollen doch manche Scheu u. manches Mißtrauen gegen die Beschränktheit der orthodoxen Theologen getrost fahren lassen. Ich erinnere mich, wie vielfach ich zu meiner Zeit auf diese Weise mir Carricaturen gemahlt und wie weiland Don Quixote gegen Windmühlen gefochten habe. Übrigens, wie ich mir vorstelle, würden Sie nun kaum mit mir zufrieden sein, wenn ich nicht noch offener gegen Sie herausrücken wollte. Sie werden mich nach meinen obigen Andeutungen nicht so leichten Kaufs wieder entwischen lassen wollen und werden doch von mir zu erfahren begehren, worin denn und weswegen nach meiner Meinung Ihre Erkenntniß der soteriologischen Dogmen u. Ihre Erfahrung der Erlösung in Christo nicht genügend sein solle. Nun, ich habe A gesagt; so muß ich auch B sagen. Und so nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich, obschon ein Unbekannter u. gewisser Maßen ein Unberechtigter, doch aus lauter guter Meinung gegen Sie, mit der Thüre ins Haus hineinfalle. Sie haben ganz richtig gesehn, daß nach beinahe jedem Worte unsers Herrn u. Erlösers, so wie nach fast jedem Verse in den paulinischen Briefen unsre ganze Begnadigung u. Erlösung durch Christum vermittelt seie, durch Christum geschehen u. gegeben seie, durch Ihn uns zu Theil werden muß (Joh. 14, 6). Und Sie haben, um sich deswegen, da Sie ja in der Schrift die vollkommenste Urkunde des Lebens, das aus Gott ist, erkennen, mit der Schrift in Einverständniß zu setzen, sich eine Ansicht über die Sache zu bilden versucht, welche mir aus meinen schleiermacherischen Zeiten her noch gar wohl bekannt ist. Es kann Ihnen aber nicht entgangen sein, wie wenig Ihre Darstellung der Gottessohnschaft Christi und der Bedeutung seines Todes die biblische u. apostolische Darstellung deckt. Die kirchliche Dogmatik würde Ihnen sagen, Sie haben nichts als das prophetische Amt des Erlösers; sein hohepriesterliches u. königliches Amt reduciere sich nach Ihrer Auffassung auf eine Steigerung u. Bestätigung seiner prophetischen Wirksamkeit und eine Fortführung derselben durch die dritte, vierte, hundertste u. tausendste Hand. Offenbarung Gottes, Besieglung der Wahrheit, Erscheinung des Ebenbildes Gottes, Anregung derer, die seine Erscheinung sahen u. durch sie wieder Anregung der folgenden Generationen zum eigenen Suchen u. Wiederanknüpfen der Gemeinschaft Gottes, das ist, so viel ich habe finden können, der einzige Weg für Sie, wodurch der Sohn Ihnen der Vermittler der Erlösung wird.

Wenn ich mich frage, was Sie dergestalt an unserm Erlöser haben u. folglich auch einer Ihnen anvertrauten Gemeinde geben werden, so finde ich die Sache allerdings etwas geistiger, lebendiger, inniger, als bei den weiland Rationalisten gefaßt, eben doch nur sein Wort, seine Lehre, sein Beispiel und dann die Religionsgesellschaft die er gestiftet, veranlaßt u. angeregt hat. Alles wahr u. richtig. Aber wie wenig, wie arm, wie ungenügend (verzeihen Sie diese Rede) dem gegenüber, was ein Johannes, ein Paulus, ein Augustin, ein Luther, was die vielen hundert u. tausend im seligen Glauben an ihren Heiland u. HErrn lebenden u. strebenden evangelischen Männer u. Frauen an Ihm gehabt haben! Oder hätte ich unrecht gesehen? Thue ich Ihrer Auffassung zu viel? Sagen Sie’s mir, wie ich Ihnen Unrecht thue. Strafen Sie mich darüber. Will gerne Abbitte thun, wo ich Ihrer Dogmatik allzunahe treten sollte. Aber ich muß es gestehen, einen Erlöser, der mehr als Ihnen das Leben gezeigt, Einen der es Ihnen auch erworben hat, der es Ihnen auch geben kann, der Ihnen u. denen, die Sie leiten sollen die Hand wirklich reichen u. Ihnen aus den Sünden helfen kann, der Ihnen u. denen, welche Sie zu Ihm führen wollen, auch eine Versöhnung der Schuld anbietet, eine völlige Freudigkeit zum Eingang in das Heiligthum wirklich aufgeschloßen u. erworben hat: – mit einem Wort, einen Erlöser, der Ihnen mehr als die Seligkeit zeigen, der Sie wirklich realiter erlösen kann, den habe ich, ich gestehe es, in Ihrer Auseinandersetzung nicht finden können. Aber da kommen wir nun eben an die, wie Sie selber sagen, schon früher in Ihnen beginnende Grundbedingung Ihrer bisherigen theologischen Ansichten. „Der Heiland war Ihnen von je mehr in seiner menschlichen Gestalt erschienen,“ war Ihnen kaum je Der, an den Sie sich um Erlösung aus den Sünden wandten. Sie werden mir eben sagen: einen solchen Erlöser, wie ich ihn verlange, brauchen Sie ja nicht, da Sie ja sich „zum Vater gewendet und bei Ihm schon Gnade, Trost u. Frieden gefunden“ zu haben glauben. Und hier ist nun der Punkt, wo ich’s Ihrem Gott, der Ihnen von ferne erschienen ist, der Sie je u. je geliebet u. Sie zu sich gezogen hat aus lauter Güte, überlasse, Sie tiefer hinein zu führen in das Heiligthum einer persönlichen Gemeinschaft u. eines lebendigen persönlichen Verhältnisses mit Ihm selbst, in die Tiefen der göttlichen Heiligkeit, der göttlichen Rechte und der göttlichen Erbarmungen. Hier kann ich nichts beweisen, und nichts fordern. [...]

Doch nicht wahr, lieber Herr Breitenstein, ich ermüde Sie mit meinen vielen Worten? Nun, so nehmen Sie nur etwas daraus, nur das was Sie brauchen können, was Sie auf dem Wege zur Wahrheit des Lebens um ein Schrittlein vielleicht fördern kann. Wenn ich auf dem steilen Pfade, auf dem Sie bisher, manchmal recht gedrückt u. ernstlich, dem Ziel der Glaubensfestigkeit u. Glaubensinnigkeit entgegengestiegen sind, Ihnen nur bei einem einzigen Tritte die Hand reichen u. Ihnen den Schritt erleichtern kann, – so bin ich reich belohnt u. weiß wohl, daß ich auch zu solchem Handlangerdienst im Reiche Gottes nicht durch mich tüchtig noch desselben werth bin. Eins fürchte ich freilich, nach einigen Worten in Ihrer Arbeit zu schließen; Sie werden meinen, Obiges sei eben Ergebniß subjectiver besonderer Anlage, Gemüthsart, besonderer Bildungselemente. Die Art u. Weise des Ausdrucks mag wohl daher kommen. Aber glauben Sie nicht, daß gewisse Anschauungen u. Herzenserfahrungen sich uns mit der vollen Gewißheit u. Nöthigung aufdrängen, daß sie für Alle wahr u. für Alle nöthig, das Eine Nothwendige seien? Würden Sie sich z. B. Ihr Bedürfniß, einen lebendigen Gott u. keine bloße Weltseele oder Grundkraft der Dinge zu haben, als Ergebniß besondrer Gemüthsart u. angeerbter Bildung ausdeuten lassen? Dann lassen Sie mich Sie herzlich bitten, werfen Sie meine Bedenken, die ich Ihnen hier zu bedenken gegeben habe, nicht ganz von sich; sehen Sie nicht darauf, wer das ist, der Ihnen da geschrieben hat; sehen Sie nicht darauf, wie unbehülflich im Ausdrucke u. wie schwerfällig in seinen Worten er Ihnen geschrieben hat. Denken Sie, vielleicht könnte er doch ein Werkzeug sein, durch welches Gott Sie auf etwas aufmerksam machen wollte. Da in unserer Welt so viel Bessere u. Tüchtigere oft schweigen, so hat dießmal ein Untüchtiger geredet. Und dem wollen Sie nun, lieber theurer Herr Breitenstein, wo er Ihnen etwa wider seinen Willen wehe that, deswegen nicht zürnen u. alle seine Worte ihm, wie sie denn

auch gemeint sind, aufs Beste deuten.

Ihr Ergebener
Ab. Burckhardt. Pfr.